Liebesbrief an die Nachtschicht
- Jan Honegger
- 25. März 2024
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. März 2024
Die Nachtschicht ist in der Pflege ein kontroverses Thema, das unterschiedliche Meinungen hervorruft - während einige sie schätzen, empfinden andere sie als äußerst belastend. Persönlich zähle ich mich zu den Befürwortern der Nachtschicht, da sie meiner Ansicht nach das bietet, was der Pflegeberuf eigentlich ausmachen sollte. Im weiteren Verlauf dieses Artikels werde ich darauf eingehen, welche Aspekte dies sind. Bevor ich auf die zahlreichen Vorteile eingehe, möchte ich auch einige Nachteile erwähnen, um dem Vorwurf entgegenzutreten, ich würde einseitig profitieren wollen. In sozialen Berufen ist Tratsch keine Seltenheit, und manchmal führt der tief sitzende Frust zu Neid und Missgunst, was negative Gedanken hervorruft. Daher möchte ich diesen Gedanken hier vorbeugen, indem ich die Nachteile zuerst anspreche, weil die Nachtarbeit nicht nur Vorteile mit sich bringt.
Nachdem ich über 12 Jahre lang Vollzeit in der Pflege gearbeitet habe, habe ich mich entschieden, mein Pensum auf 80% zu reduzieren, als ich fast 30 Jahre alt war. Trotz des damit verbundenen Lohnverlusts kann ich mir momentan nicht mehr vorstellen, 100% in der Pflege zu arbeiten. Dass man trotz eines nicht sehr luxuriösen Lebens und der vorherigen Vollzeitbeschäftigung die Lohneinbußen spürt, bleibt nach aussen oft unbemerkt. Doch was für jeden offensichtlich ist, ist der attraktive Arbeitsplan mit einem 80%-Pensum.
Während der Nachtschichten opfere ich auch einen Teil meiner Freizeit, da es ein oder zwei Tage dauert, um wieder in den Tagesrhythmus zurückzukehren. Studien zeigen, dass regelmäßige Nachtschichten bis zu 8 Jahre Lebenszeit kosten können. Dafür werden berechtigterweise auch Nacht- und Zeitzuschläge in vielen Bereichen angeboten. Leider sind nicht überall diese Zuschläge verfügbar, besonders die Zeitzuschläge nicht. Auch die Zuschläge für Nachtarbeit sind ein Anreiz, sich für Schichtarbeit zu entscheiden. Mit steigenden Lebenshaltungskosten, Mietpreisen und Krankenversicherungskosten kämpft jeder für sein eigenes Überleben. In schwierigen Zeiten sagt dir niemand Danke, und jeder handelt in erster Linie im eigenen Interesse, selbst in Berufen oder Ländern, die als besonders sozial gelten. Leider ist dies die Realität.
Nun möchte ich zum Kernthema kommen. Ich war noch nie ein Frühaufsteher. Jede Frühschicht war für mich eine Herausforderung. Das Aufstehen wurde von mehreren Weckern begleitet, begleitet von Übelkeit und einer tiefen Müdigkeit. Doch sobald ich zur Arbeit kam, war ich plötzlich wach und energiegeladen. Es waren stets die ersten Minuten nach dem Aufwachen, die mir zu schaffen machten. Doch dann begann der hektische Alltag. Ärzte, Medikamente, Angehörige, Bewohner, Kollegen, Termine, Wundversorgung, Lernende, medizinische Geräte – all dies waren äußerst spannende Themen und Aufgaben. Doch es gab immer zu wenig Personal und Zeit für alles. Irgendwann wurde mir das alles zu viel.
Ich erhielt die Gelegenheit, vermehrt Spät- und Nachtschichten zu übernehmen. Die Tatsache, dass auf meine individuellen Bedürfnisse eingegangen wurde, schätze ich noch immer sehr, und dafür bin ich aufrichtig dankbar. Was ich besonders an den Nachtschichten schätze und liebe? Wenn Bewohner klingeln, habe ich einfach Zeit für sie. Wenn sie in einer Krise sind und ihre Gedanken sich im Kreis drehen, kann ich ihnen gut 10, 20 oder sogar 30 Minuten lang zuhören und mit ihnen sprechen. Wenn sie hungrig oder durstig sind, ist das kein Problem - ich begleite sie zum Speisesaal und serviere ihnen etwas. Ich nehme mir auch Zeit, das Ganze schön anzurichten. Außerdem dokumentiere ich viel mehr und genauer als zuvor, was auch ein wichtiger Aspekt der Qualitätssicherung ist. Zusätzlich dazu hat niemand das Sagen darüber, wie ich meine Arbeit verrichten soll, und ich habe die Freiheit, sie nach meinen eigenen Vorstellungen zu gestalten und zu planen. In Sterbephasen habe ich auch die Möglichkeit, längere Zeit bei den Bewohnern im Zimmer zu verweilen, mich zu ihnen zu setzen, ihre Hand zu halten und einfach Beistand zu leisten, wenn ich spüre, dass sie ängstlich oder unruhig sind.
Abschließend möchte ich sagen, dass die Entscheidung in der Pflege vermehrt Nachtschichten zu übernehmen, für mich persönlich eine Bereicherung darstellt. Die Dankbarkeit für die individuelle Berücksichtigung meiner Bedürfnisse sowie die Möglichkeit, in den ruhigen Stunden der Nacht den Bewohnern die Zeit und Unterstützung zu geben welche sie benötigen, empfinde ich als wertvolle Aspekte meines Berufs. Es muss jedoch auch angemerkt werden, dass es natürlich auch Nächte gibt, die hektisch und unruhig verlaufen. Dies variiert immer wieder und hängt von der Bewohnerkonstellation ab. Dennoch bevorzuge ich persönlich jede noch so turbulente Nachtschicht gegenüber einer Frühschicht. In der Nacht erlebe ich eine ruhige und einfühlsame Atmosphäre, die es mir ermöglicht, den Bewohnern die notwendige Fürsorge und Unterstützung zukommen zu lassen - und dies ist für mich von unschätzbarem Wert. Aufgrund der individuellen Präferenzen jedes Einzelnen und der Vielfalt der verfügbaren Arbeitszeitoptionen sehe ich großes Potenzial zur Steigerung der Mitarbeiterzufriedenheit, indem wir diese Wünsche und Möglichkeiten berücksichtigen. Es gibt viele Pflegekräfte, die bevorzugt Früh- oder Spätdienste übernehmen würden, sowie andere, die gerne alle Schichten abdecken, um Abwechslung zu erleben. Eine entsprechende Umsetzung wäre sicherlich machbar.



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